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Die Fhrungsidentitt ist Teil eines umfassenderes Selbstbildes. Der Begriff Selbstbild bezeichnet die Vorstellung, die eine Person von sich selbst hat. Es umfasst die Wahrnehmung der eigenen Persnlichkeit, Fhigkeiten, Werte, Strken und Schwchen. Das Selbstbild wird durch persnliche Erfahrungen, soziale Interaktionen und gesellschaftliche Einflsse geformt. Eine Fhrungsidentitt zu besitzen, heit zu wissen, dass das Fhren mit der eigenen Person verbunden wird und je nach Lebenslage und/oder Umstnden in dem Wunsch, der Motivation, mndet, Fhrung zu bernehmen. Des Weiteren kann es mit konkreten Vorstellungen verbunden sein, wann und wie eine Fhrung auszuben ist. Die Fhrungsidentitt kann stark oder schwach bis berhaupt nicht ausgeprgt sein. Gesellschaft, Gemeinschaften oder Organisationen sehen Positionen vor, in denen Fhrung ausgebt werden sollte. Ob dies dann gelingt, hngt davon ab, wie es um die Fhrungsidentitt der betreffenden Person steht und ob sie von den anderen, denen sie vorsteht, als Fhrungsperson akzeptiert wird. Sonst leitet sie nur eine Einheit, denn diese Leitungsfunktion ist fraglos mit einer dafr vorgesehenen Position verbunden, aber sie fhrt eben dann nicht. Und wir wissen: Fhrung und nicht Leitung macht den Unterschied. Um einen Unterschied zu machen, sollte man also als eine Fhrungskraft im wahrsten Sinne des Wortes angesehen werden.
Herausbildung einer Fhrungsidentitt Der Prozess
Eine bedeutsame interaktionsorientierte Betrachtung der Herausbildung einer Fhrungsidentitt haben DeRue und Ashford (2010) vorgelegt (dazu im Folgenden Weibler 2023). Sie stellen die Frage: Who will lead and who will follow? Es geht darum, aufzuzeigen, wie in Organisationen Prozesse zwischen Organisationsmitgliedern ablaufen, die in einer Fhrungsrolle (who will lead) und Gefhrtenrolle mnden (who will follow). Ausgangspunkt ist unter anderem die Idee, dass sich Beziehungen zu Fhrungsbeziehungen entwickeln, wenn die beteiligten Individuen im Rahmen ihrer Interaktion entsprechende Leadership-Identittenim Sinne einer Differenzierung in eine Leader-Identitt(leader identity) und eine Follower-Identitt(follower identity) aushandeln.
Startpunkt ist die Annahme, dass grundstzlich keine a priori Festlegung von Fhrung, sehr wohl natrlich von Leitung, erfolgt. Wer fhrt und wer gefhrt wird bzw. sich also in eine Follower-Rolle begibt, muss erst ausgehandelt werden. Eine einseitige, aber unbesttigte Fhrungsidentitt einer Fhrungskraft nutzt alleine nichts. Es ist so, als wenn jemand bei einer Stadtfhrung ein Fhnchen hochhlt und losgeht, aber andere suchen ihre eigenen Wege, manche bleiben einfach stehen und wieder andere bilden kleinere Gruppen und marschieren auf eigene Faust los.
Im Organisationsalltag bilden sich potenziell Leadership und Followershipbestndig heraus, brigens auch dann, wenn dies formal gar nicht vorgesehen ist (informelle Fhrung). Wir beziehen uns aber hier auf die formal vorgesehenen Positionen wie Teamleitung und Teammitglied. Identittsarbeit verluft nach DeRue/Ashford nicht in einem linearen Prozess. Ein z. B. Teamleiter, der eine Bereitschaft hat, zu fhren, versucht durch sein Verhalten eine legitime Leader-Identitt zu etablieren (Akt der Beanspruchung). Im Zuge dieses Prozesses trifft er sie mit seinen Bestrebungen auf bekrftigende oder abwehrende Antworten der Teammitglieder, die durch verbale und nonverbale Kommunikation, Symbolik, Verhalten usw. vermittelt werden knnen. Derartige Rckkoppelungen (reziproke Identittsarbeit) tragen (im Idealfall) dazu bei, Mehrdeutigkeiten aufzulsen und Klarheit sowie Akzeptanz ber die Fhrungsbeziehung herzustellen. Der Fhrungsanspruch wrde also gewhrt, eine nur Leitung der Einheit entscheidend angereichert.
Wie sieht das fhrungspraktisch aus: Ein direkter verbaler Akt des Beanspruchens einer Leader-Identitt wre etwa ein direktes Statement, dass man hier der oder die Fhrende sei. Ein direkter verbaler Akt des Beanspruchens einer Follower-Identitt, wre die Aussage, dass man der vorgeschlagenen Richtung folge, oder dass man erwarte, der andere mge eine Richtung vorgeben oder eine Entscheidung treffen. Die schlichte Aussage, Das mssen Sie entscheiden und damit die Einforderung von Fhrung durch eine andere Person wre hier ein Beispiel fr einen direkten verbalen Akt des Beanspruchens einer Follower-Identitt. Oder nehmen wir als einen direkten nonverbalen Akt beispielsweise die Symbolik. Hier gibt man sich wie ein Leader etwa durch eine hervorstechende, aber passende Kleidung, oder indem man bei einem Meeting den Platz am Kopf des Konferenztisches (als erster) wie selbstverstndlich einnimmt. Eine nonverbale Beanspruchungstaktik fr eine Follower-Identitt wre etwa, sich in einem Meeting nur auf direkte Aufforderung zu Wort zu melden. hnlich kann eine Person Leader-Identitt gewhren, indem sie den Platz am Kopf des Konferenztisches einer anderen Person anbietet. Dies muss nicht alles auf einmal passieren, sondern ergibt sich teils im Zeitverlauf, je nach Reaktion des anderen. Dieser Prozess wird von anderen beobachtet und nachgeahmt oder verworfen. Die Summe der einzelnen Entscheidungen fhrt dann je nach Ergebnis zu einem breiten Konsens ber Fhrung und gefhrt werden, einer Zerfaserung der Auffassungen darber, wer die Fhrungskraft ist oder zu einer Gruppe, die nur Leitung, aber keine Fhrung kennt.
Herausbildung einer Fhrungsidentitt unterbleibt Der Prozess wird erst gar nicht in Gang gesetzt
Wenn sich der obige Vorgang des Beanspruchens und Gewhrens positiv ereignet, entsteht Fhrung. Was aber, wenn die Beanspruchung selbst ausbleibt? In diesem Fall hat sich bislang keine Fhrungsidentitt herausgebildet. Woran liegt das? Folgen wir dazu einer Gruppe um die Professorin fr Management und Organisation, Julian Lee Cunningham, von der University of Michigan, USA. Zunchst einmal ist klar, dass die Identitt stark von sozialisatorischen und situativen Faktorenwieeigenen Erlebnissen beeinflusst wird. Laufen die an dem, was irgendwie mit Fhrung zu tun hat, vorbei, ist die sptere Herausbildung einer Fhrungsidentitt bereits erschwert.
Dann sollten wir an antizipierte Image-Risiken denken. Mitarbeitende befrchten, dass die bernahme einer Fhrungsrolle ihr Image negativ beeinflussen knnte. Drei wesentliche Aspekte stehen hierbei im Vordergrund: (1) Furcht, als herrisch wahrgenommen zu werden: Fhrung wird oft mit Dominanz und Durchsetzungsvermgen assoziiert. Viele vermeiden daher die Rolle, um nicht als bossy oder unsympathisch zu erscheinen. (2) Zweifel an der eigenen Qualifikation: Wer sich selbst nicht als ausreichend kompetent empfindet oder Angst vor Versagen hat, vermeidet Fhrungsaufgaben. Besonders Personen mit einer fixen Denkweise (Leadership ist angeboren, nicht erlernbar) scheuen das Risiko. (3) Sorge, sich von der Gruppe zu entfremden: Fhrung erfordert Distanz zu bisherigen Kollegen. Die damit einhergehende soziale Isolation hlt viele davon ab, eine Fhrungsidentitt ernsthaft auszubilden und eine Fhrungsrolle zu bernehmen.
Und dann sind da noch jenseits des Individuellen die kulturellen und organisationalen Hemmnisse. (1) Fehlende Vorbilder und Mentoren, die eine Fhrungsidentitt strken knnten. (2) Eine Unternehmenskultur, die Leadership primr als hierarchische Autoritt und weniger als flexible, teamorientierte Kompetenz versteht- zumindest grenzt dies den Kreis der willigen ein. (3) Mangelnde Untersttzung und Entwicklungsprogramme, die Mitarbeitende an die Fhrungsrolle ber eine Identittsbildung heranfhren. (4) und vergessen wir nicht eine fehlende finanzielle Honorierung der Verantwortung, die in einer Untersuchung von Andrea Derler als wichtigster Faktor ausgewiesen wurde. Fr die bernahme einer Fhrungsrolle ist dies empirisch erhrtet, fr die Herausbildung der vorauslaufenden Fhrungsidentitt als anreizhemmend zu vermuten.
Handlungsempfehlungen zur Beeinflussung der Fhreridentitt
Grundstzlich mssen wir die Herausbildung einer Fhrungsidentitt als einen dynamischen Prozess verstehen. Eine einmal entwickelte Fhrungsidentitt kann sich abschwchen etwa durch fhrungsbezogene Misserfolge , aber auch gefestigt und auf andere Bereiche bertragen werden, beispielsweise vom Freizeitsektor auf den beruflichen Kontext und dort ber Sektoren hinweg.
Betrachten wir mgliche Handlungsempfehlungen, ergeben sich diese zunchst spiegelbildlich aus den Hemmnissen: Sie wirken indirekt auf die Fhrungsmotivation ein, indem sie eine angegriffene Fhrungsidentitt strken. Mein bergreifender Ratschlag jedoch gleich zu Beginn: Die Mglichkeit, Fhrung zu bernehmen, sollte aus biographischer Sicht mglichst frhzeitig geschaffen und altersgerecht gestaltet werden. Im Beruf sollten Experimentierrume zur Entwicklung von Fhrung bereitgestellt werden etwa durch rotierende Stellvertreterregelungen oder die bernahme von (Teil-)Projektleitungen zunchst in physischer Prsenz, nachgelagert in virtuellen Settings.
Ein oft unterschtzter Aspekt ist die Bedeutung positiver Vorbilder: Erfolgreiche Fhrungspersnlichkeiten sollten ihre Entwicklungsgeschichten transparent machen inklusive Rckschlgen und ngsten, aber auch der Strategien, mit denen sie diese Herausforderungen gemeistert und produktiv genutzt haben. Dies haben wir schon fr den Fall der Wahrnehmung einer authentischen Fhrung nachgewiesen (Weischer/Weibler/Petersen 2013).
Gleichzeitig sollten die von Julia Cunningham empirisch identifizierten Image-Risiken bewusst adressiert werden, um die Angst vor einem negativen Selbstbild abzubauen. Menschen, die sich als kooperativ verstehen, frchten mglicherweise, durch eine Fhrungsrolle als autoritr (herrisch) wahrgenommen zu werden. Deshalb sollte betont werden, dass Fhrung vor allem eine Chance ist, Dinge positiv zu gestalten und zu verbessern.
Fhrungsidentitt kann gezielt entwickelt werden. Individuelle Entwicklungspfade sollten klar aufgezeigt, Fhrungskompetenzen schrittweise aufgebaut und durch positive Erfahrungen die Selbstwahrnehmung als Fhrungskraft gestrkt werden. Hier spielt insbesondere die Frderung der Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle.
Zudem sollte eine lernorientierte Haltung etabliert werden: Fhrung ist keine auergewhnliche Gabe, sondern eine Fhigkeit, die erlernt werden kann und es ist wie bei allem zu vermitteln, dass Unterschiede in ihrer Erlangung und Ausbung existieren, was Ansporn denn Entmutigung sein sollte. Aber gerade die Basics sind kein Hexenwerk. Respekt vor anderen und ihren Lebensgeschichten wie beruflichen Anstrengungen ist eine davon. Diese berzeugung muss aktiv vermittelt werden, um talentierte, aber zweifelnde Mitarbeitende anzusprechen. Eine weitere effektive Manahme ist eine soziale Untersttzung durch beispielsweise Coaching und Mentoring, um ngste abzubauen und die Fhrungsrolle schrittweise zu verinnerlichen. Ergnzend knnen strukturierte Fhrungsprogramme angeboten werden. Dabei sollte jedoch ehrlich kommuniziert werden, dass eine gute Fhrung mit Herausforderungen verbunden ist. Gleichzeitig bietet sie die Mglichkeit, eigenverantwortlich zu gestalten und weniger von ueren Einflssen abhngig zu sein.
Nicht zuletzt mssen auch berzeugende finanzielle Anreize geschaffen werden, die mit der bernahme einer Fhrungsrolle einhergehen. Ebenso wichtig ist es, ausreichend Zeit fr die Einarbeitung und das Ausfllen der Rolle einzuplanen. Zwar garantiert all dies nicht automatisch die Herausbildung einer Fhrungsidentitt aber es erhht ihre Wahrscheinlichkeit erheblich.